Der Schriftsteller und der Kalligraf


Der Kalligraf kalligrafiert die Formen des Lebens in die Buchstaben der Sprache.
Der Schriftsteller schreibt seine Formen in seine Romane.
"Mich hat nicht das Leben schreiben, sondern das Schreiben leben gelehrt. Die Form ermöglicht den Inhalt, nicht umgekehrt", sagt Heimito von Doderer.
"Die Form, die wir formen, formt uns", sagt der Kalligraf.
Anlässlich der Landshuter Literaturtage im Jahre 2001, die sich dem Werk Heimito von Doderers widmeten, vergab die Stadt Landshut den Auftrag, aus dem Schaffenswerk des Literaten 30 Kalligrafien anzufertigen, um diese dann während der Literaturtage zu präsentieren.
Für einen Kalligrafen eine große Herausforderung - eine dankenswerte Herausforderung. Ermöglicht sie es doch dem Kalligrafen, sein Können in einer konkreten Anforderung zu zeigen, von der schon vorher bekannt ist, dass sie öffentliche Beachtung findet. Dank an die Stadt Landshut und hier besonders an Herrn Stix vom Kulturamt.
Nach der Vorfreude auf die Arbeit kommt die Ernüchterung. Die Arbeiten wollen gefertigt werden, die Texte ausgewählt. Das kalligrafieren selber ist Freude, Formenspiel, Begegnung mit dem Leben.
Die Textauswahl kann Qual sein.
Wie einem Heimito von Doderer gerecht werden?
Das wahrhaft Große geschieht leicht. Der Klaviervirtuose lässt seine Finger über die Tasten schweben während der Schüler qualvoll Ton um Ton hervorbringt.
Also muss die Auswahl leicht sein.
Der Kalligraf nimmt Bücher, welche die großen Romane Doderers beinhalten, geht in ein Kopiergeschäft, schlägt die Bücher wahllos auf und kopiert.
Die Kopien bleiben wochenlang liegen.
Dann wird die erste genommen: ein Auszug aus "Ein Mord den jeder begeht".
Form für Form gestalten sich Buchstaben, Wörter, Sätze. Dabei liest der Kalligraf nur so schnell wie er kalligrafiert. Also sehr langsam im Vergleich zu unserer gewohnten Lesegeschwindigkeit in Bezug auf Dreigroschenromane, Börsenkurse und Bildzeitungsschlagzeilen. Und dem Kalligrafen erschließt sich Wort für Wort die Gedankenwelt Heimito von Doderers. Und obwohl er nur zwei Seiten aus dem Roman schreibt, hat er das Gefühl, mit diesen zwei Seiten aus einem Roman den Kern des gesamten Romanes getroffen zu haben, und sogar weit mehr, den Kern des gesamten Heimito von Doderer.
Ist es ein glücklicher Zufall gewesen, gerade diese zwei Seiten ausgewählt zu haben? Oder schimmert durch das gesamte Lebenswerk Heimito von Doderers seine Gesamtaussage, ähnlich wie bei einem Hologramm jedes Teil das Ganze wiederspiegelt?
Für den Kalligrafen war die Arbeit an den Bilder ein "Lesen" ganz eigener Art - ein auflesen von Gedanken, Worten, großen und kleinen Alltäglichkeiten, die eben das Leben ausmachen. Worte, dokumentiert in Formen.
"Ich habe nicht malen können", sagte der Professor. "Es war unmöglich. Im Pinsel war Lähmung. So hab' ich es gespürt. Später hab' ich ein Wort dafür gefunden: es hat sich damals absolute Bildlosigkeit im Atelier verbreitet. Es war eine Wucht. Sie ist mit Macht von Ihrem Vater ausgegangen. Mir war so zu Mute als sollte ich nie mehr im Leben malen können. Ich habe auch nur so getan als ob ich malte und die Sitzung baldmöglichst beendet."
aus: Der Grenzwald
Wieder ein Text, der den Kalligrafen berührt. Diesmal aus "Der Grenzwald" - und Gedanken dazu: hat auch Doderer manchmal das Gefühl gehabt, nicht mehr schreiben zu können - und ist er vor der Entscheidung gestanden, nur so zu tun als ob, einfach weiterzumachen, weil es erwartet wird, wie Kokosch in seinem Mord, den ein jeder begeht.
Wie gehe ich mit der Kalligrafie um - wie gehen wir mit unserem Leben um?
"Es ist doch ein Glück, dass diese stinkenden Bürger, die nur achten, was Geld kostet und geringschätzen, was ihnen ohne Geld gegeben wird, sich durch ihren Schwachsinn dann und wann demaskieren; wir würden sonst noch häufiger auf das Gesindel hereinfallen.
Ich halte jeden Menschen für voll berechtigt, auf die von den Ingenieursgesichtern und Betriebswissenschaftlern herbeigeführte derzeitige Beschaffenheit unserer Welt mit schwerstem Alkoholismus zu reagieren soweit er sich nur etwas zum saufen beschaffen kann. Sich und andere auf solche Weise zu zerstören, ist eine begreifliche und durchaus entschuldbare Reaktion. Wer nicht säuft, setzt heutzutage schon eine beachtliche und freiwillige Mehrleistung.
Commentarii; 12.11.1965, 1.4.1966
"Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es - viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endgültig unterzugehen. Statt dessen hab' ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt."
Tagebuchauszug vom 18.10.1951
Persönliche Gedanken von Heimito von Doderer, die dem Kalligrafen die Form vorgeben: die ersten Auszüge grobschächtig, aggressiv, den folgenden Auszug zusätzlich mit einer Feinheit versehen, welche die darin steckende Ambivalenz zum Ausdruck bringt.
Für den Kalligrafen ist die Arbeit an den 30 Kalligrafien die Möglichkeit, sein gesamtes, bisher angesammeltes Können auszudrücken: verschiedene Schriften einzusetzen, die Gotische, die Fraktur, die Unzialis, Antiquaschriften, sie in ihrer Reinform zu präsentieren, sie zu variieren, mischen, leicht schwebend auf's Papier gleiten zu lassen, sie roh und unbehauen abzustellen, mit ihnen zu singen, schreiben, lachen und weinen.
Und dabei nie das Thema aus den Augen zu verlieren: Heimito von Doderer und seine Zeit. Eine Zeit, in der im deutschsprachigen Raum zwei Schriftformen beheimatet waren: die "Deutschen Schriften", die sich aus den Gotischen und den Frakturschriften als Handschriften entwickelt haben und die "Lateinischen Schriften", die dann 1944 offizielle benutzbare Formensprache wurde. Eine Reminiszenz an diese Zweisprachigkeit ist in einige Kalligrafien eingearbeitet.
Der Schriftsteller wird gefragt: "Wie lange braucht er für einen Roman?"
Der Kalligraf wird gefragt: "Wie lange braucht er für ein Bild?"
Beide geben eine Zeitangabe zwischen Stunden, Wochen und Monaten an und können dann anfügen: so und so lange habe ich dafür gebraucht, aber um die Arbeit so fertigen können, wie sie vorliegt, war mein ganzes bisheriges Leben notwendig.
 
 
Abbildungen sämtlicher Arbeiten sowie eine Beschreibung zu Inhalt, Entstehung und benutzten Materialen

© Hans Maierhofer 2002