Rundbrief Januar 2002

Die Unzialis

Liebe Freunde der Kalligrafie,

Euch allen ein angenehmes, erfreuendes und erquickendes neues Jahr.

Gestalterisches Gegenstück zur Gotischen Schrift ist die Unzialis.

Die Gotische Schrift ist geprägt durch ihre Geraden und das Fehlen von kreisförmigen Elementen.

Die Unzialis, so wie sie in diesem Rundbrief dargestellt wird, besteht dagegen überwiegend aus kreisförmigen Elementen.

Historisch ist die Unzialis erstmal eine Weiterentwicklung der Römischen Kapitalschrift. Andere Werkzeuge und Byzantinischer Einfluss ließen die Schrift runder und weicher werden. In der Halbunziale bricht diese Schrift dann aus einem bisher üblichen zweiliniensystem aus: leichtes über- und unterschreiten der Zweilinienbegrenzung bahnen den Weg zu dem jetzt üblichen Begrenzungssystem Oberlänge - Mittelband - Unterlänge, in das wir seit dem 800 Jahrhundert (karolingische Schrift) schreiben.

Die Unzialis feierte, nachdem sie von Rom in den Norden Europas gebracht worden war, eine weitere Hoch-Zeit: das Evangeliar von Lindisfarne, das Book of Dorrow und das Book of Kells sind Zeugnisse kalligrafische Höhepunkte gestalterischen Schaffens.

Die Formen fanden modifiziert Eingang in die karolingische Schrift - und über diese dann fünfhundert Jahre später ihre Fortsetzung in den lateinischen Buchstabenformen der Minuskeln.

Die hier vorgestellte Unzialis ist eine von Professor Werner Eikel verwendete Form. Die einzelnen Grapheme sind in sich und zueinander stimmig.

 

 

Buchstabenhöhe: 2 Kästchen

Federstärke: 2,5 mm

Federstand: 30 Grad (25-35 Grad)

Zeilenzwischenraum: 1 Kästchen

Besonderheiten: die einzelnen Buchstaben bestehen aus geraden Linien und Teilen des ovalen Grundelementes. Das Grundelement ist breiter als hoch. Versuchen Sie, die Breite des Grundelementes in alle Buchstaben hineinzutransportieren. Das „M“ hat somit annähernd die doppelte Breite des Grundelementes.
Am Beispiel des „B“ sehen Sie die einzelnen Elemente separat, aus denen der Buchstabe besteht. Wenden Sie diesen Bewegungsablauf für alle Buchstaben an. Sie werden dadurch immer mehr mit Ihrer Feder als Ihrem Arbeitsgerät vertraut und erzielen ästhetisch ansprechende Formen.
Beim Abstrich des „Z“ stellen Sie den Fedestand auf 0 Grad, damit er die nötige Dicke hat, um den oberen Strick zu tragen*.
Die „Füßchen“ am Ende des „I“ und des „U“ werden mit der rechten Federspitze gezogen.
Ein „ß“ weist dieses Alphabet nicht auf. Es wird mit „doppel-s“ geschrieben.

* „Wieso tragen? Die Buchstaben liegen doch auf dem Papier“, werden Sie jetzt vielleicht denken. Unser Verstand nimmt sie jedoch immer auch in ihrer Möglichkeit als räumlicher Gegenstand auf. Diese Buchstaben in Holz oder Stein gebaut müssen selbst oder im Kontext zu ihren Nachbarn aufrecht stehen können, dann wirken Sie angenehm auf uns.

 

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze