Rundbrief Mai 2002

 

Die Schrift des neuen Jahrtausends
Gedanken zur Reform der Schreibschrift in Deutschland

Hinführung

Jede Kultur zeigt das ihr Eigentümliche in ihrem Ausdruck. Architektur, Musik, Schrift sprechen dabei die gleiche Sprache. Genauso wie politisches System, gesellschaftliche Konventionen und Spiritualität.

Sehen wir uns das alte Rom an

Es war zentralistisch angeordnet, ein Kaiser nutzte die Macht um eben diese zu vergrößern, die Gesellschaft war durchorganisiert von Sklaven bis zur Oberschicht mit wenig Möglichkeiten der Fluktuation. Und auch bei den Göttern, denen menschenähnliche Eigenschaften zugeschrieben worden waren, galt Macht und Stärke.

Ebenso war die Architektur: monumental, auf die Ewigkeit ausgerichtet: mächtige Bauten, die noch in fernen Zeiten von der Macht Roms künden sollten - und es auch noch tun.

Genauso pompös, aufsehenerregend, Zeiten überdauernd war die Schrift: die kapitale Monumentalschrift Roms, in der sich die Geometrie Platons wiederfand, die mächtig und erhaben in Stein eingemeißelt die Zeiten überdauerte, materiell und ideell, jetzt noch zu sehen und zu befühlen ist und sich in unseren gedruckten Großbuchstaben wiederfindet.

Die Zeiten änderten sich. Rom wurde schwächer, das Kaisertum verlor an Macht, die alten Götter wurden durch einen neuen abgelöst und auch die Schrift wurde runder und weicher: aus der Römischen Kapitalschrift wurde eine römische Unzialis.

Sehen wir uns nun das keltische Irland an

Ein politisches und wirtschaftliches System, dass auf dem Clangedanken basierte und kein mächtiges Reich implizierte. Eine Spiritualität, die eine uns märchenhaft anmutende "Anderswelt" zuließ. Eine Kultur, die von den Römern die Schrift und den Gott übernahmen und beides der eigenen Kultur entsprechend ausformulierten. Das Christentum wurde entsprechend dem Clangedanken in Klostergemeinschaften ausgedrückt und in der Schrift trat der einzelne monumentale Buchstabe zurück vor dem Gesamterscheinungsbild des gestalteten Werkes.

Sehen wir uns das gotische Deutschland an

Es ist die Ablösung der Romanik, welche ihrerseits mit der karolingischen Renaissance die Wirren der Völkerwanderung endgültig beendet hatte. Die Zeit Karls des Großen, die wieder ein wirtschaftliches, politisches und gesellschaftliches stabiles System gebracht hatte und mit der karolingischen Schrift ein Alphabet benutzte, das auf der Formensprache der von Rom nach Irland gekommenen Unzialis beruhte und eben diese irische Unzialis der Zeit angepasst, erstmals mit Ober- und Unterlängen und weniger verspielt, schrieb.

Die romanischen Rundbögen werden spitzer, die Rundungen der karolingischen Schrift entsprechend den Bögen der Architektur ebenso. Die Buchstabenstämme werden erstmals in der Schriftgeschichte gebrochen. Das Individuum tritt vor einem großen Ziel zurück: das Leben im Hier und Jetzt ist nur eine Vorbereitung auf das Leben im Jenseits. Im Edikt von Worms wird der Kirche wieder mehr Macht zugesprochen, die großen Kathedralenbauten erfordern den Arbeitseinsatz ganzer Landstriche.

Diese strenge, disziplinierte, kontemplative Lebens- und Federführung mit ihren Licht und Schattenseiten endet mit der Reformation: Luthers Thesen und die Schwabacher Schrift zeigen einen Weg in einen gemäßigteren Alltag, der mit der Gegenreformation wieder eine kleine Richtungsänderung erfährt.

Was bleibt ist die Brechung der Buchstabenstämme in der Schrift, die in der Gotischen Schrift, der Schwabacher und der Frakturschrift kennzeichnendes Merkmal ist und eine Schriftenfamilie begründet und fortführt welche Grundlage der Deutschen Handschriften - Kurrent, Sütterlin und Offenbacher Schrift - ist.

Ordnen wir nun die italienische Renaissance ein

Während Deutschland die Gotik lebte, begann sich in Italien der Humanismus zu regen. Kurz wurde die Gotische Schrift angetestet, dann besann man sich aber auf die eigenen Tradition: der Antike sollte gehuldigt werden. Geradeso als ob man sich aus der Vergangenheit Kraft für eine neue Zeit, einen Aufbruch in die Neuzeit, holen wollte. In der Kunst wurde die Bedeutungsperspektive von der Inhaltsperspektive abgelöst, in der Wissenchenschaft traten die Naturwissenschaften vor die Geisteswissenschaften und in der Schrift wurden die Formen Roms und die Formen des Reiches von Karl dem Großen Grundlage für die neue Schrift der Humanisten, die wiederum Grundlage der "lateinischen Schrift" ist, die wir heute schreiben.

Nebenbei erwähnt sei noch, dass es bereits im 18 und 19 Jahrhundert immer wieder Bestrebungen gab, auch im deutschsprachigen Raum die lateinische Schrift einzuführen, dies aber erst 1941 durch einen Erlass der Nationalsozialisten geschah.

Gestaltsetzende Aspekte

Die Gestaltpsychologie schreibt allen "Gestalten" eine tiefere Bedeutung zu. Alles kann als "Gestalt" betrachtet werden. Eine Handbewegung ist "Gestalt". Sie kann einladend "gestaltet" sein, sie kann abweisend "gestaltet" sein. Eine musikalische Äusserung ist "Gestalt". sie kann fröhlich, traurig, ergreifend gestaltet sein. Ebenso sind Schriftzeichen Gestalten, die uns viel erzählen können.

So erzählt eine Handschrift dem geübten "Leser" viel über den Schreiber. Starker Druck kann von Stärke und/oder Unbeherrschtheit zeugen, schwacher Druck lässt Unsicherheit und/oder Sensibilität vermuten, linksschräge eine Orientierung in der Vergangenheit, rechtsschräge eine Orientierung in die Zukunft.

Weit ist dieses Feld der Graphologie, die sich Schwerpunktmäßig mit dem Individuum beschäftigt. Die Erkenntnisse der Schriftpsychologie können aber auch auf die Schrift einer ganzen Zeit angewendet werden. Die Analogie zwischen Zeit und Schrift wurden bereits in der Hinführung dargestellt.

Für die weitere Ausführung werden nun einige Gestalten näher beleuchtet. Statt "Gestalt" verwende ich im folgenden den Begriff "Form".

Die Gestalten (Formen) links und rechts neben dem zu betrachtenden Objekt

Die Gestaltpsychologie sieht in den Formen links von einem Objekt die Vergangenheit, rechts davon die Zukunft. In unserer gewohnten Art zu schreiben schreiben wir von links nach rechts; von der Vergangenheit in die Zukunft. Eine sich nach links legende Schrift deutet auf eine Orientierung in die Vergangenheit, eine sich nach rechts legende Schrift deutet auf eine Orientierung in die Zukunft.

Die Formen über und unter dem Mittelband (Oberlängen und Unterlängen)

Unter- und Überlängen sieht die Schriftpsychologie in Analogie zu Freuds Modell vom "Überich - Ich - Es". So entspricht das Mittelband dem Ich, das Oberband dem Überich und das Unterband dem Es.

Mit dem Ich wird der erwachsenen Mensch ausgedrückt, der fest im Leben steht, eigenen Entscheidungen trifft und auf die Einflüsse von Überich (Tradition, Erziehung, gesellschaftliche Konventionen) und Es (Triebsteuerung) angemessen reagieren kann.

So wie Freud bei einem ausgeprägten Überich auch immer ein ausgeprägtes Es beobachtet und umgekehrt, können wir bei Schriften bei ausgeprägten Oberlängen auch immer ausgeprägte Unterlängen - und umgekehrt beobachten.

Die deutschen Schriften

Die deutschen Handschriften entwickelten sich aus den Frakturschriften des 16 und 17 Jahrhunderts. Drei Schriften sind zu unterscheiden, wenn wir nun von den "Deutschen Schriften" sprechen:

  • Kurrentschrift
  • Sütterlinschrift
  • Offenbacher Schrift

Die Kurrentschrift

Die Kurrentschrift entwickelte sich aus dem Volk. Sie ist gekennzeichnet durch überwiegend gerade Linien und spitze Winkel. Das Verhältnis von Oberband zu Mittelband zu Unterband ist 2:1:2. Die Ober- und Unterlängen sind also jeweils doppelt so lang wie das Mittelband. Freud sieht in diesem Verhältnis ein Ich, dass stark von Trieben und Ausseneinflüssen gesteuert wird.

Das Merkmal der spitzen Winkel beschreibt der Graphologe Alfons Lüke wie folgt:

Während Arkade und Girlande als natürlich fließende Bewegung gelten, stellt der Winkel eine unvermittelte Richtungsänderung im Schreibakt dar, so dass die eben ansetzende Bewegung nicht ausschwingen kann, sondern abrupt gebremst und danach geändert wurde. Dieser Bremsvorgang hat natürlich eine dauernde Anspannung de dafür zuständigen Muskulatur zur Folge, der innerseelisch eine ebensolche "Verspannung" adäquat ist. Wer den kürzesten Weg gehen will, wählt ohnehin gerade Bewegungsabläufe, schaut dabei weder nach links oder nach rechts und möchte auch in keiner Form abgelenkt oder aufgehalten werden. Genau das tut auch der Winkelschreiber. Sein Verhalten ist wie die Schrift "zackig", ihm kommt es wesentlich auf den klaren Sachverhalt an; weiche Übergänge kennt er nicht, und damit deutet sich auch die Tendenz zur Kompromisslosigkeit an. Er ist de Typ des Entweder - Oder, Alles oder Nichts. Härte und Widerstand sind seine Grundhaltungen. Um eine Anpassung an äussere Gegebenheiten zu vermeiden, wählt man solche unmittelbaren Übergänge. Seine Gegner kann man so durch plötzliche Entscheidungen überraschen und ihnen ausserdem zeigen, dass man Konflikten keineswegs ausweicht. Hinter der oftmals getakteten Bewegung ist etwas vom Marschtritt eines Soldaten zu spüren. Festigkeit und Gradheit sollen herausgestellt werden, sei es auch nur als Rolle, um eventuelle eigenen Schwächen damit zu überspielen. Die Sprunghaftigkeit des Richtungswechsels zeigt auch an, dass der Winkelschreiber faktisch immer vor etwas auf der Lauer liegt. Diese Wachheit und Bewusstheit weisen eindeutig auf die Vorherrschaft des Willens hin, alle Gemütsbewegungen werden als Schwäche oder unmännnlich abgetan.

Winkelschreiber passen sich ungern an, sie gehen unbeirrt und pflichtbewusst ihren Weg, konsequent und mit zunehmendem Alter auch recht konservativ. Je schärfer uns spitzer die Winkel werden, desto deutlicher zeigt sich in der Form eine aggressive Haltung. Wie die spitzen Ellenbogen vortrefflich als Abwehr- oder Angriffswaffe gebracht werden, so unternehmen Winkelschreiber gelegentliche Ausfälle, um Unliebsames von sich fernzuhalten.

Das ist die Schriftform, die in Deutschland in den letzten Jahrhunderten bis 1941 bevorzugt worden ist.

Die Sütterlinschrift

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte die für Schulkinder schwer erlernbare Kurrentschrift von einer leichter erlernbaren Schrift abgelöst werden. Sütterlin entwickelte dafür eine Schrift, die Ende des 19. Jahrhunderts offizielle Schrift an den Schulen wurde. Diese Schrift ersetzt einige der spitzen Winkel durch einfache Rundungen. Ober- Mittel- und Unterlängen sind im Verhältnis 1:1:1 zueinander. Diese Schrift wirkt auch in Erwachsenenhand noch kindlich und wurde so zwar in den Schulen gelehrt, aber kaum von den Erwachsenen übernommen.

Die Offenbacher Schreibschrift

In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts befreite der Offenbacher Schriftsetzer und Kalligraf Rudolf Koch die Sütterlinschrift von ihrem kindlichen Erscheinungsbild und gestaltete mit der Offenbacher Schreibschrift eine harmonische, ausgewogenen Schrift, die auf den deutschen Schriftformen der letzten Jahrhunderte basiert, ansprechende Rundungen aufweist und ein Ober- Mittel- Unterlängenverhältnis von 2:3:2 besitzt. Ein Verhältnis also, welches ein starkes Ich (Mittelband) neben einem ausgewogenen Überich und Es ausdrückt und annähernd dem Goldenen Schnitt entspricht.

Zu kurz war die Zeit für diese Schrift, um sich durchzusetzen. Auch widersprach die Zeit von 1930 bis 1945 diesen Formen.

Die lateinischen Schriften

Die lateinischen Handschriften entwickelten sich aus den Antiquaschriften der Renaissance. Kleinbuchstaben entwickelten sich aus der karolingischen Schrift, die Großbuchstaben *aus der Römischen Schrift.

In unseren Schulen lernen die Kinder 4 Alphabete:

  • Ein Großbuchstabenalphabet in Schreibschrift
  • Ein Kleinbuchstabenalphabet in Schreibschrift
  • Ein Großbuchstabenalphabet in Druckschrift **
  • Ein Kleinbuchstabenalphabet in Druckschrift

*Ausgehend vom Deutschland der Gotik führte auch das übrige Europa eine Großschreibung ein. Allerdings immer gemäßigter als in Deutschland.
Die Rechtschreibereform in Deutschland hatte es sich unter anderem auch als Ziel gesetzt, die Großschreibung in Deutschland zu verringern. Das Ergebnis ist beachtenswert: statt weniger Großschreibung gibt es nun nach Abschluss der Reform mehr Großschreibung.

**Der Begriff "Druckschrift" zeigt an, dass hier - wie das Wort schon sagt, "gedruckte Schrift" nachgeahmt werden soll. Zu Gutenbergs Zeiten, zu Zeiten des Beginns des Buchdrucks war es anders: da gab sich der Buchdruck die Vorgabe, Handschrift nachmachen zu wollen - und nicht umgekehrt.

Als Erwachsenen bevorzugen wir eine Groß- und Kleinbuchstabenform, die meist eine Mischung aus beiden darstellt.
Untersuchen wir nun die in Deutschland empfohlenen Buchstabenformen (KWMBL I So.-Nr. 1/2000):

Druckbuchstaben

Die Kleinbuchstaben weisen ein Längenverhältnis von 3:4:3 auf. Die Großbuchstaben orientieren sich an der Römischen Kapitalschrift, ohne jedoch die geometrischen Spannungsverhältnisse Platons oder die Arbeit Dürers an den Graphemen auch nur ansatzweise zu berücksichtigen.

Verbundene Schrift

Groß- und Kleinbuchstaben zeigen ein einheitliches Erscheinungsbild. Kennzeichnend ist eine leichter kursiver Lauf nach rechts sowie ein ausgewogenes Verhältnis von geraden und kreisförmigen Elementen zueinander.
Das Verhältnis von Ober- Mittel- und Unterband beträgt 4:3:4.

Auffallendstes Merkmal ist der fehlende Anstrich bei den Kleinbuchstaben. Der Endstrich, der die Verbindung zum nächsten Buchstaben herstellen soll, dagegen ist überdimensional und ersetzt den Anstrich diesen Buchsabens.

Dieses Merkmal ist auch bei den Großbuchstaben zu beobachten.

Die Schriftpsychologie sagt dazu: es fehlt die Hinführung, der Beginn, die Vergangenheit. Es beginnt gleich mit der Gegenwart, fällt „mit der Tür ins Haus“ um dann sogleich in die Zukunft zu enteilen. Ein „enteilen“, welches mit dem überdimensionierten Ausstrich der Buchstaben überbewertet ist.

Vergleichen wir diese Vorgabe mit der Vorgabe in Frankreich.

Das Verhältnis von Ober- Mittel- und Unterlängen beträgt 4:3:4. Die Schrift sitzt gerade auf der Zeile - weder rechts- noch linksschräg. An- und Ausstriche stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander.

Die Großbuchstaben sind verspielt. Sie kommen aus sich selber und weisen auf sich selbst zurück.


Schlussbemerkung

Das Alphabet als Kommunikationsmittel tritt vor digitalen Möglichkeiten zurück. Digitale Techniken bedienen sich zwar noch des Alphabetes, bedienen sich aber immer mehr der Möglichkeit, Töne und Bilder digital zu übermitteln. Bei digitaler Kommunikation mittels des Alphabetes ist das Erscheinungsbild, die Form der Grapheme nachrangig vor dem Inhaltsaspekt und ordnet sich technischen Gegebenheiten unter (Darstellung von Umlauten, Zeilenbegrenzungen, Abkürzungen aufgrund von Platzmangel).

Handschrift wird immer weniger, so wie wir auch in anderen Lebensbereichen immer weniger "Hand anlegen". Der Begrüßungshandschlag ist nur möglich, wenn wir uns gegenüberstehen. Er entfällt bei e-mails, Videokonferenzen und Telefongesprächen. Handgeschriebenes ist noch eine "handreichung" - ist reich an Hand.

Dieses Wenige zu pflegen ist „sinn“voll. Da es weniger wird, ist es umso notwendiger, die Gestalten, die darin enthalten sind, genau zu betrachten und die Vorgaben, die wir unseren Kindern vorlegen, sorgfältig auszuwählen.

Anhang:
Beispiele zu den besprochenen Schriftformen

 

 

 


Aufsätze zur Kalligrafie
Rundbriefe aus den Jahren 2001 und 2002
sowie die Petersburger Aufsätze